Für ein paar Tage Freude schenken

von Samuel Stöcklein

Die Schülerinnen und Schüler des AK Soziales mit Frau Remmele von den Maltesern am 9.12.2022 vor dem vollgepackten Transporter mit Weihnachtsgeschenken für arme rumänische Familien.

Wieder einmal haben Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte zusammen einen Transporter voll Geschenk-Pakete für rumänische Familien geschnürt, die dann von den Maltesern in die Region Gaesti gefahren worden sind, wo sie nicht nur die materielle Not für ein paar Tage lindern sollten, sondern auch ein Zeichen der Solidarität aus dem wohlstandssatten Westeuropa darstellen, verbunden mit der Botschaft: „Wir haben euch nicht vergessen!“

Darauf können alle Spender stolz sein! Gleichzeitig aber sollte auch nicht vergessen werden, dass die kleine Spende an der strukturell bedingten Armut nichts ändern kann. Wenn Aktionen wie diese einen nachhaltigen Nutzen haben sollen, dann kann das nicht gelingen, wenn man darüber hinwegsieht, welche Faktoren zu der strukturellen Armut führen, besonders, welche Rolle die Politik der Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Union dabei spielt.

 

Kranke Volkswirtschaft

Das Land Rumänien hat eine schwierige Geschichte: Nach der Instrumentalisierung im 2. Weltkrieg durch Nazi-Deutschland, der stalinistischen Umgestaltung und dem autokratischen Ceaușescu-Regime erarbeitete sich das Land die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt, der 2007 erfolgte. In den ersten Jahren wuchs die Wirtschaft mit relativ hohen jährlichen Wachstumsraten, doch die internationale Banken- und Finanzkrise von 2007/2008 brachte auch den rumänischen Staatshaushalt an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit.

Der Staat erkaufte sich einen Notkredit vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der als letzte Instanz für die Aufrechterhaltung der staatlichen Zahlungsfähigkeit zuständig ist. Der dafür zu zahlende Preis war ein sogenanntes Strukturanpassungsprogramm, ein vom IWF zur Bedingung gemachtes Maßnahmenpaket, zu dem die Forderungen gehören, die öffentlichen Ausgaben zu senken, öffentliche Güter zu privatisieren, Handelsbeziehungen zu liberalisieren und den Kapitalmarkt zu deregulieren.

In Rumänien führte die Umsetzung einiger dieser Maßnahmen zu weiterer Verarmung. Denn was die IWF-Strategen nicht sahen oder sehen wollten, war das leidige Detail, dass sinkende Einkommen auf Seiten der Staatsbeschäftigten bzw. steigende Kosten für öffentliche Güter wie Wasser und Energie auf Seiten aller zu einem Kaufkraftverlust führen, der die Binnenkonjunktur schwächt, ganz abgesehen von den gesundheitlichen Folgen von Unterernährung und medizinischer Unterversorgung. Den meisten Menschen ging es also durch diese Politik des fehlenden Augenmaßes schlechter als zuvor. Lediglich einzelne Unternehmer, die von Privatisierungen profitierten, verzeichneten Wohlstandsgewinne. Auch das Bruttoinlandsprodukt, das die Wirtschaftsleistung eines Landes insgesamt repräsentiert, stieg in der Folge nicht mehr wie zuvor (vgl. Grafik).

 

Grafik entnommen aus https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Laenderprofile/rumaenien.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 19.12.2022)

Nachdem sich Rumänien nach einigen Jahren wieder vom IWF-Diktat losgekauft hatte, wurden nicht alle schädlichen Maßnahmen aufgehoben, denn was blieb, war die EU und die Lobbyisten von ausländischen Unternehmen und Investoren. Sie setzten unter anderem durch, dass das Bilden von Gewerkschaften erschwert wurde, sodass ein großer Teil der Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen seine Stimme verlor. Entsprechend prekär sieht das Ergebnis für die arbeitende Bevölkerung aus: Etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung arbeitete nur für den Mindestlohn (oder weniger), als hätten sie keinerlei Ausbildung und Qualifikation. Bei den gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträgen war dergleichen noch beachtet worden. Und der Mindestlohn beträgt aktuell lediglich 3,08 € in der Stunde (515 € im Monat, so das statistische Bundesamt).

Eine weitere Reform, die beschönigend als „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ angepriesen wurde, waren „Null-Stunden-Verträge“, also Verträge, in denen eine Mindestarbeitszeit von null Stunden vertraglich festgelegt wird, sodass Arbeitgeber ihre Angestellten kurzfristig informieren können, wann sie wie lange arbeiten dürfen. Ein Traum für Arbeitgeber, deren unternehmerisches Risiko hinsichtlich der Personalkosten minimiert wird, aber ein Albtraum für Arbeitnehmer, die monatlich Miete, Heizung, Strom, Essen und Kleidung für sich und ihre Familie zahlen müssen. Über Reformen wie diese berichtete ausführlich Crina Boros in „der Freitag“ (Ausgabe 47/2017).

Brain Drain

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht wirklich verwunderlich, wenn qualifizierte Arbeitskräfte Rumänien den Rücken kehren und als Arbeitsmigranten den Weg nach Westeuropa antreten, der ihnen seit dem EU-Beitritt 2007 wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit uneingeschränkt offensteht. Diese Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte wird als „Brain Drain“ bezeichnet. Eine deutsche Bezeichnung wäre etwa „Fachkräfteklau“ (Jochen Mitschka).

Ein Bereich, in dem diese Abwanderung besonders schmerzhaft ist, ist das Gesundheitswesen. Ärzte und Pflegepersonal wandern nach in Rumänien genossener Ausbildung oder Studium in westliche Länder ab, wo der Verdienst höher ist und der Zustand von Krankenhäusern und die medizinische Infrastruktur insgesamt noch besser ist. In Rumänien sollen Ärzte teilweise gezwungen sein, ihre Patienten zu bitten, Medikamente und Spritzen selbst zur Behandlung mitzubringen.

Deutschland sahnt ab

Dass deutsche Politiker immer wieder die gezielte Anwerbung ausländischer Fachkräfte propagieren, was private und öffentliche Akteure auch praktisch unermüdlich tun, unterstützt genau dieses Ausbluten Rumäniens. Ob die Bundesregierung so handelt, weil sie die Gesamtzusammenhänge nicht hinreichend berücksichtigt, oder weil sie bewusst nationale Interessen über alles stellt, muss hier offenbleiben. Rumänien jedenfalls versuchte 2020 mit einem Ausreiseverbot für medizinisches Fachpersonal und Pflegekräfte zu kontern. Und selbst eine Zeitung wie die FAZ spielte mit dem Gedanken, dass die Bundesrepublik für jede eingewanderte medizinische Fachkraft einen Geldbetrag zur Kompensation für die Ausbildungskosten zahlen sollte, denn immerhin koste die Ausbildung den rumänischen Steuerzahler ca. 100.000 €. Der Deutschlandfunk sah durch dieses Problem gar die Existenz der Europäischen Union als ganzer in Gefahr. 

Wenn das Argument vorgebracht wird, dass Rumänen, die in Deutschland arbeiten, ja auch Geld an ihre rumänischen Familien überweisen, weshalb es eine „Win-Win-Situation“ sei, dann sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, wenn es denn stattfindet, nicht viel an der strukturell bedingten Armut ändert. Außerdem werden gerade im Niedriglohnsektor auch die Mindestlöhne in Deutschland nicht immer voll ausgezahlt, sodass der reale Stundenlohn oft auf ein Niveau hinabgedrückt wird, das nicht weit über dem rumänischen Niveau angesiedelt ist. Gerissene private Vermittler nutzen dabei die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse und die erschwerte Kommunikation der ausländischen Arbeitskräfte untereinander (wegen unterschiedlicher Muttersprachen) aus.

Auch wenn hier nur ein Teil der wirtschaftlichen Probleme angesprochen wurde, dürfte bereits deutlich werden, dass ohne ein aktives politisches Gegensteuern keine positive Zukunft auf Rumänien wartet. Beschönigende Propagandahülsen wie „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ dürfen nicht länger benutzt werden, um moderne Formen der Sklaverei zu schaffen. Dabei ist selbst der Begriff Sklaverei noch zu positiv, denn Sklavenhalter ließen schon aus Eigennutz ihren Besitz nicht ohne Not verhungern.

Und jetzt?

Wenn alle Bürger Europas, die an Geschenk-Aktionen wie der Glücksbringer-Aktion teilnehmen, dabei auch an diese Aspekte denken und – sofern es ihnen möglich ist – auf die sie repräsentierenden Politiker einwirken, wenigstens innerhalb der EU nicht die nationalen Interessen auf Kosten anderer zu bedienen und aktiv auf eine Angleichung der Lebensstandards hinzuwirken, dann erst haben die rumänischen Familien wirklich Grund zu sagen: „Ja, wir wurden in der Tat nicht vergessen!“